Gesunde Ernährung: Kinder bleiben im Regen stehen

Gesunde Ernährung für unsere Kinder spielt im Koalitionsvertrag keine Rolle – Ein Kommentar von Peter Wogenstein

Gesunde Ernährung ist im vorliegenden Koalitionsvertrag kein Thema. Hatte die CDU / CSU sich schon vor der Bundestagswahl gegen Maßnahmen für eine gesündere Ernährungsumgebung ausgesprochen, so ist vom Engagement der SPD für die Empfehlungen des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“ wenig zu spüren. Wir erinnern uns: die Abgeordneten des Bundestages hatten 2023 den Bürgerrat einberufen und beauftragt, Empfehlungen für die Abgeordneten zu erarbeiten. Diese Empfehlungen liegen sehr ausführlich begründet seit Februar 2024 vor. Nichts davon findet sich im Koalitionsvertrag. Schlimmer noch: Dem Prozess der Bürgerbeteiligung wird eine Absage erteilt, Engagement aus der Zivilgesellschaft erhält eine Abfuhr.

Im Koalitionsvertrag findet sich nichts von dem, was nachweislich unseren Kindern hilft:

  • kein beitragsfreies, gesundes Mittagessen für alle Kinder in Kitas und Schulen
  • keine Werbebeschränkung von ungesunden Produkten für Kinder
  • keine Steuer auf Zucker und zuckerhaltige Getränke
  • keine verpflichtende, für die Verbrauer:innen leicht zu verstehende Kennzeichnung auf hoch verarbeiteten Produkten der Lebensmittelindustrie

Die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen findet in der neuen Regierung keinen Anwalt.

Damit werden auch vorliegende Studien der Wissenschaft weiter ignoriert. So u.a. das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeslandwirtschaftsministerium aus dem Jahr 2020 und die vielen wissenschaftlichen Studien zu den Auswirkungen ungesunder Ernährung. Dass die gesundheitlichen Folgen ungesunder Ernährung auf ca. 60 Mrd. pro Jahr geschätzt werden – so Gesundheitsverbände -, scheint in der neuen Koalition immer noch nicht angekommen zu sein.

„Wir fördern verstärkt Bewegung und gesunde Ernährung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen“, lesen wir im Koalitionsvertrag, aber nichts Konkretes. Eigentlich bleibt es wie bisher: die Verantwortung für Ernährung wird den Konsument:innen, Jung und Alt zugeschoben. Statt an Produkten und Werbung etwas zu verändern, notwenige Rahmenbedingungen für eine gesunde Ernährung zu setzen, trifft jegliche „Schuld“, jegliche Auswirkung ungesunder Ernährung die „mündigen“ Konsument:innen.

Warum ist das so?

Der Widerstand gegenüber einer Veränderung in unserem Ernährungssystem ist groß. Wir wissen das eigentlich. Aber es ist notwendig, sich die Hintergründe nochmals bewusst zu machen.

In einer aktuellen Studie aus Großbritannien wurden alle ehemaligen politischen Entscheider, Prime Minister und Minister persönlich befragt, warum sie trotz ihres Wissens über die negativen Auswirkungen ungesunder Ernährung nichts oder nur wenig aktiv getan haben. Dabei legten sie die in ihren Augen vier wichtigsten Gründe offen, warum Politik für gesunde Ernährung scheitert:

1. Versuche der politischen Entscheider, Einfluss auf das Ernährungsverhalten in der Gesellschaft zu nehmen, werden in der öffentlichen Diskussion vehement als „Bevormundung“ abgetan. Man empört sich über den Eingriff in die „persönliche Entscheidungsfreiheit“.

2. Die Entscheider sind sich der negativen Auswirkungen hochverarbeiteter Lebensmittel bewusst. Zucker macht süchtig. „Wollen wir uns zu Tode essen?“, fragt jüngst selbst die eher konservative FAZ am Sonntag. Aber die massive Lobbyarbeit der Lebensmittelindustrie und die Furcht vor negativen Auswirkungen in der Wirtschaft hindert Entscheider daran, Einsichten und Wissen in Gesetzen und Verordnungen umzusetzen.

3. Das Thema Ernährung und Einsicht in den Zusammenhang von hochverarbeiteten Lebensmitteln und Erkrankungen hat es noch nie in die Liste der Top Themen der Politik geschafft.

4. Da Ernährung und das Ernährungssystem eine komplexe, vielschichtige und weitläufige Angelegenheit ist, wird jeder Gestaltungsversuch zu einem politischen Such- und Verwirrspiel (die Briten nennen es: „Whack-the-Mole“- Triff den Maulwurf). Die Verantwortung für gesunde Ernährung ist über zahlreiche Ministerien verstreut. Eine übergreifende Zusammenarbeit gelingt nicht oder nur schwer.

Verwundert sind wir also nicht über den Inhalt des Koalitionsvertrags zur Frage, wie konkret besonders Kinder und Jugendliche gesund ernährt werden können, auch nichts zum Abbau von Ernährungsarmut. Aber alle, die wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen des Bürgerrats ernst nehmen, sind verärgert.

Fazit: Die Lebensmittelindustrie hat weiterhin ihren Fuß in der Tür. Und das verheißt nichts Gutes. Protest ist dringend notwendig. Diese Koalition wird von allein keine Wende unseres Ernährungssystems bringen.

Dr. Wilfried Bommert

Das Netzwerk der Ernährungsräte Niedersachsens e.V. trauert um Dr. Wilfried Bommert, Vorstandssprecher und Begründer des Instituts für Welternährung e.V. / World Food Institute

Am 9. April ist Dr. Wilfried Bommert nach schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren verstorben. Mit ihm verliert die Ernährungswende einen ihrer engagiertesten Vordenker, einen beharrlichen Streiter für eine gerechte, nachhaltige und zukunftsfähige Agrar- und Ernährungspolitik.

Als Agrarwissenschaftler, Journalist, Autor und Mitbegründer des Instituts für Welternährung e.V. prägte Wilfried Bommert über Jahrzehnte hinweg die öffentliche Debatte zu Fragen unserer Lebensmittelproduktion und -kultur. Bereits früh erkannte er die fatalen Folgen einer industriellen Landwirtschaft und setzte sich mit Nachdruck für eine ökologische, faire und demokratisch gestaltete Ernährungszukunft ein.

Mit seinem Engagement hat er der Ernährungswende eine starke Stimme verliehen – sei es als langjähriger Redakteur beim WDR, als Autor einflussreicher Bücher, als Sprecher des Instituts für Welternährung e.V. oder als Mitinitiator zahlreicher Ernährungsräte in deutschen Kommunen. Stets war sein Ziel: den Wandel und politischen Druck von unten stärken.

Wilfried Bommert verstand Ernährung als politisches und kulturelles Thema – als Ausdruck von Verantwortung, Gerechtigkeit und Verbindung. Seine Arbeit war getragen von dem tiefen Wunsch, den Zugang zu gesunden Lebensmitteln für alle Menschen zu sichern und die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren.

Mit Veröffentlichungen wie „Landwirtschaft am Scheideweg“, „Stille Killer“ oder „Verbrannte Mandeln“ schärfte er den Blick für die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Klima, Gesundheit und sozialer Gerechtigkeit. Dabei scheute er nie die klare Position oder den unbequemen Diskurs.

Das Netzwerk der Ernährungsräte Niedersachsens e.V. schätzte ihn nicht nur als klugen Kopf und Mitstreiter, sondern auch als Lehrenden, Redner, Ratgeber und Motivator.

Wilfried Bommert hat mit seinem Institut die Bewegung zur Bildung kommunaler und regionaler Ernährungsräte mitinitiiert und eine Handreichung zu ihrer Gründung und zu ihrer Tätigkeit „Ernährungswende jetzt. Ein Beratungsmodul für Ernährungsräte“ erarbeitet und publiziert. Wilfried Bommert war selbst an der Gründung und Entwicklung zahlreicher Ernährungsräte in Deutschland beteiligt.

Wilfried Bommert hat mit dem Institut für Welternährung die finanzielle und organisatorische Unterstützung unseres Vereins „Netzwerk der Ernährungsräte Niedersachsens e.V.“ seit seiner Gründung ermöglicht. Mit Wilfried Bommert haben wir zahlreiche Veranstaltungen durchgeführt, so die Diskussion mit Landtagsabgeordneten und Termine mit der Niedersächsischen Landwirtschaftsministerin. Trotz schwerer Krankheit hat er im November 2024 in Hannover die Kraft aufgebracht, seine Sicht auf die notwendige lokale und globale Agrar- und Ernährungswende in aller Tiefe darzulegen. In der Veranstaltung „60 Jahre Malawi. Überleben in Zeiten der Klimakrise – Was lernen wir und was können wir gemeinsam tun“ hat Wilfried Bommert allen Anwesenden die Bedeutung seines Themas: „Was wir tun, wirkt sich weltweit aus. Wir tragen Verantwortung für unser Handeln.“ deutlich vor Augen geführt.

Sein intellektueller Scharfsinn, sein unermüdlicher Einsatz und seine zutiefst menschliche Haltung – all das wird fehlen. Die von ihm angestoßenen Ideen und Projekte wirken weiter.

Der Vorstand des Netzwerks der Ernährungsräte Niedersachsens e.V. trauert um einen Weggefährten, Freund und Visionär.

Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und allen, die ihm nahestanden.
Wir werden sein Vermächtnis in seinem Sinne weitertragen – laut, klar und unbeirrbar – für eine enkelfähige Zukunft.

Peter Wogenstein

Sprecher des Vorstands
Netzwerk der Ernährungsräte Niedersachsen e.V.
Am Listholze 7
30177 Hannover

Gemüsesuppe

„Gemeinsam für gutes Essen sorgen“ – Artikel von Peter Wogenstein in Ökologie & Landbau

Peter Wogenstein, Sprecher des Netzwerks Ernäh­rungsräte Niedersachsens e. V., beschreibt in seinem Artikel „Gemeinsam für gutes Essen sorgen“, was die Menschen antreibt, die sich in zahlreichen Städten und Regionen in Ernährungsräten für ein nachhaltiges Ernährungsystem engagieren, was sie erreichen wollen und wie weit sie schon gekommen sind. Der Artikel wurde in der Ausgabe 2/2025 „Ökologie & Landbau“ veröffentlicht.

Ernährungsräte Niedersachsen zu Besuch im Landwirtschaftsministerium

Die neue Landwirtschaftsministerin Miriam Staudte hat ein offenes Ohr für die Sorgen der Ernährungsräte in Niedersachsen

Hannover, der 16. Januar 2023

Seit gut 3 Jahren sorgt der Ernährungsrat Niedersachsen für den Austausch der Ernährungsräte und Ernährungsinitiativen im Land untereinander, berät und begleitet junge Ernährungsräte und Initiativen vor Ort, stellt Materialien zur Verfügung, organisiert Treffen und Weiterbildung, vernetzt Aktivitäten, moderiert Veranstaltungen, macht die notwendigen Büro- und Verwaltungsarbeiten, unterstützt bei der Formulierung von Projektanträgen. All dies und mehr geschieht in der Regel ehrenamtlich.

Für diese Sorgen und Hürden für die Arbeit der Ernährungsräte im Flächenland Niedersachen, so die Förderrichtlinien des Landes für Ernährungsprojekte, hat Miriam Staudte in einem ersten Kennenlern-Gespräch ein offenes Ohr. Einig sind sich alle am Tisch Versammelten: die meist ehrenamtliche Tätigkeit der Ernährungsräte vor Ort ist wichtig und braucht Unterstützung.  Geht es doch konkret z.B. um gesunde Kita- und Schulverpflegung („Klarer Kopf sucht gute Nahrung“) statt „Nur billig essen“. So fordert der Koalitionsvertrag „Schulmensen zu Lernorten“ zu machen. Ernährungsräte würden sich gerne dafür engagieren, aber ehrenamtliche Arbeit hat Grenzen.

Katrin Hille, ER Göttingen, Staatssekretär Dr. Michael Marahrens, Peter Wogenstein, Sprecher ER Niedersachsen, Judith Busch, ER Oldenburg, Ministerin Miriam Staudte, Daria Kistner, ER Hannover (von links nach rechts; Bild: Peter Wogenstein)

Gerade die Kantinen als Großverbraucher sind aus Sicht der Ernährungsräte ein wichtiger Hebel für eine drängende Ernährungswende. Ernährungsräte helfen dabei und vernetzen Akteure der Ernährungslandschaft aus der Region, so die Erzeuger, Verarbeiter, den Handel, die Konsumenten, Verwaltung und Wirtschaft. Sie stoßen damit eine Ernährungswende vor Ort an. Ernährungsräte kümmern sich weiterhin um Lebensmittelwertschätzung und Ernährungsbildung, wollen Lebensmittel aus der Region fördern, legen den Finger in die Wunde der fehlenden regionalen Verarbeitungsstrukturen und vieles mehr.

Ernährung ist ein gesellschaftspolitisches Querschnittsthema, auch das machen die Ernährungsräte im Gespräch mit der Ministerin deutlich. Das Ministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz kann eine Ernährungswende im Land Niedersachsen allein nicht stemmen. Mehrere gehören an einen Tisch, so die Ministerien für Umweltschutz (Klimafolgen), Gesundheit (ernährungsbedingte Erkrankungen und Folgekosten, z.B. bei Adipositas, Diabetes 2), Soziales (Teilhabe für alle, Armut), Schule (frühes praxisorientiertes und nachhaltiges Lernen und Verhalten), Justiz (rechtliche Rahmenbedingungen), Finanzen (Budget), um mit den Akteuren vom „Acker bis zum Teller“ eine Ernährungswende wirklich und nachhaltig voranzubringen.

Der Koalitionsvertrag 2022-2027 wie auch die Ernährungsstrategie Niedersachsen beschreiben die Notwendigkeit einer „Transformation“ des Ernährungssystems. An der Umsetzung wollen und werden sich die Ernährungsräte – mit den zurzeit begrenzten Möglichkeiten – landesweit beteiligen.